Leseprobe Thorn

Die geflüsterten Wahrheiten

Heidelberg empfing uns nicht mit offenen Armen, sondern mit einem trügerischen Lächeln. Die Stadt, weltberühmt für ihre romantische Schlossruine, die alte Brücke und die ehrwürdige Universität, lag friedlich im Tal des Neckars. Touristen schlenderten durch die Gassen, Studenten saßen in den Cafés, und das Leben schien seinen gewohnten, gemächlichen Gang zu gehen. Doch für uns war diese Idylle nur eine Fassade. Wir waren nicht in einer Touristenstadt. Wir waren in der Höhle des Löwen, dem historischen und wahrscheinlich auch aktuellen Zentrum von Vogels Macht.

Costas hatte uns zu einem unauffälligen Industriegebiet im Stadtteil Wieblingen navigiert. Über einen weiteren von Lenas Strohmännern hatten wir eine alte, leerstehende Lagerhalle gemietet. Von außen ein rostiger, unscheinbarer Kasten, von innen unsere neue Kommandozentrale.

Während Costas den Hubschrauber unter einer riesigen Plane versteckte und begann, ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem aus Bewegungsmeldern und Kameras um das Gelände zu errichten, breitete Lena ihre digitale Ausrüstung auf alten Biertischen aus.

"Vogel erwartet uns hier", sagte sie, ohne von ihren drei Monitoren aufzublicken. "Er wird die üblichen Orte überwachen lassen: den Flughafen, die Bahnhöfe, die großen Hotels. Unsere Ankunft mit dem Hubschrauber in diesem Niemandsland hat uns hoffentlich ein kleines Zeitfenster verschafft."

"Aber er wird die Stadt selbst im Griff haben", sagte ich und blickte aus einem schmutzigen Fenster in Richtung des fernen Schlossbergs. "Ich kann es spüren. Es ist nicht wie in Rom oder Alexandria, wo die Geschichte wie ein offenes Buch dalag. Hier ist die Zeit... unterdrückt. Gedämpft. Als hätte jemand eine schwere Decke darübergelegt."

"Das 'stille Feld' des Eremiten", sagte Lena nachdenklich. "Vielleicht ist das eine Standardtechnik des Syndikats. Sie tarnen ihre Operationen nicht nur physisch, sondern auch temporal." "Dann muss ich leiser sein als sie", erwiderte ich.

An diesem Abend, als die Dämmerung die Stadt in weiches Licht tauchte, machte ich mich auf den Weg. Nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß, dann mit einer unauffälligen Straßenbahn in Richtung Altstadt. Ich trug einfache Kleidung, einen Rucksack, nichts, was mich von den Tausenden von Studenten und Touristen unterschied.

Als ich über die Alte Brücke ging und zum Schloss hinaufblickte, das rotgolden im Abendlicht leuchtete, begann ich mit der Übung, die der Eremit mich gelehrt hatte. Ich konzentrierte mich auf meinen inneren Anker, auf das Zentrum meines Bewusstseins. Ich zog meine Wahrnehmung von der lauten, vielschichtigen Geschichte der Stadt ab und fokussierte sie auf meine eigene, stille Gegenwart. Es war, als würde ich in einem lauten Raum Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung aufsetzen. Das Brüllen der Jahrhunderte wurde zu einem leisen Summen.

Und in dieser neu gewonnenen Stille spürte ich sie. Es waren keine direkten Echos von Personen. Es waren kalte Flecken in der Zeit. Löcher. Bereiche, in denen die historische Resonanz künstlich ausgelöscht worden war.

Einer dieser Flecken befand sich direkt über der Universität, ein anderer in einer luxuriösen Villa am Hang des Heiligenbergs auf der gegenüberliegenden Flussseite. Und der größte, kälteste Fleck von allen lag wie ein Leichentuch über dem Schloss selbst.

Das waren ihre Beobachtungsposten. Ihre Nester. Von hier aus beobachteten sie die Stadt, nicht nur mit Kameras, sondern auch mit ihren eigenen "Wächtern", wie auch immer diese ausgebildet sein mochten.

Ich bewegte mich durch die Gassen der Altstadt, ein Geist unter Geistern, aber diesmal ein leiser Geist. Ich spürte ihre kalte, passive Präsenz, aber sie schienen mich nicht zu bemerken. Meine Tarnung funktionierte.

Ich kehrte erst spät in der Nacht zur Lagerhalle zurück. "Sie sind überall", berichtete ich Lena und Costas und zeichnete die Positionen der kalten Flecken auf eine digitale Karte. "Aber sie sind passiv. Sie lauschen nur. Sie warten darauf, dass wir Lärm machen." "Dann werden wir keinen Lärm machen", sagte Lena mit einem grimmigen Lächeln. "Wir werden flüstern. Und wir werden an den Orten flüstern, an denen sie am wenigsten damit rechnen." Sie deutete auf den ältesten Teil der Stadt, direkt unterhalb des Schlosses. "Morgen früh fange ich hier an. In den Archiven der Universität. Die Wurzeln des Syndikats sind akademisch. Wetten wir, dass sie dort ihre ersten Spuren hinterlassen haben?"

Während ich am nächsten Tag meine Übungen mit dem "stillen Feld" verfeinerte und lernte, meine Präsenz noch weiter zu reduzieren, tauchte Lena in die tiefsten und staubigsten Keller der Heidelberger Universitätsbibliothek ein.

Sie hatte sich als Historikerin aus der Schweiz akkreditiert, die über die philosophischen Strömungen der Aufklärung in der Kurpfalz forschte – ein Thema, das so trocken und spezifisch war, dass es jeden neugierigen Bibliothekar sofort in die Flucht schlug.

Stundenlang wühlte sie sich durch handgeschriebene Folianten, Briefwechsel und Sitzungsprotokolle von längst vergessenen akademischen Gesellschaften. Costas und ich saßen in der Lagerhalle und verfolgten ihre Position auf einem Tracker, während wir die Funkfrequenzen der Stadt und die Bilder unserer Drohne überwachten, die unauffällig hoch über dem Neckartal kreiste.

Am späten Nachmittag kam der Anruf. Lenas Stimme war nur ein aufgeregtes Flüstern. "Ich habe etwas", sagte sie. "Thorn, du musst herkommen. Allein. Sei so leise, wie du kannst."

Ich traf sie in einer abgelegenen Ecke des Lesesaals. Vor ihr auf dem Tisch lag ein unscheinbares, in Leder gebundenes Buch aus dem späten 18. Jahrhundert: das Mitgliederverzeichnis des "Heidelberger Zirkels für Naturphilosophie". "Sieh dir die Namen an", flüsterte sie und deutete auf die erste Seite.

Ich las die elegant geschwungenen Signaturen. Freiherr von Dalberg. Graf von Sickingen. Prinz von Isenburg. Es waren die Namen der einflussreichsten Adelsfamilien der damaligen Zeit. Und es waren dieselben Familiennamen, die Lena in den verschlüsselten Finanzdaten des modernen Syndikats gefunden hatte.

"Das ist er", flüsterte ich. "Der Anfang." "Es wird noch besser", sagte sie und blätterte zu den Anhängen des Buches. Dort befanden sich die Protokolle einiger Sitzungen. Die meisten waren langweilige Abhandlungen über Botanik oder Astronomie. Aber eine Sitzung, datiert auf den Winter 1788, war anders. Das Thema: "Eine Untersuchung der temporalen Elastizität und der Verantwortung des aufgeklärten Geistes".

Das Protokoll war in einer Art Code verfasst, aber die Schlüsselwörter sprangen uns ins Auge: 'Das Paradoxon des Eingriffs', 'die Pflicht des Wächters', 'die Korrektur eines historischen Fehltritts'. Es war dieselbe Sprache, die mein Großvater und Vogel benutzt hatten. Und dann der letzte Eintrag des Protokolls: "Die praktische Demonstration des Experiments wird an einem Ort stattfinden, der sowohl über die nötige Abgeschiedenheit als auch über die angemessene symbolische Resonanz verfügt. Im Fundament des zerborstenen Turms, unter dem wachsamen Auge des Vaters der Pfalz."

"Der zerborstene Turm", sagte ich sofort. "Das ist einer der berühmtesten Teile der Schlossruine. Er wurde im 17. Jahrhundert von den Franzosen gesprengt." "Und der 'Vater der Pfalz' ist die Statue von Kurfürst Friedrich V. im Ottheinrichsbau", ergänzte Lena. "Die Spur führt direkt ins Schloss. Dorthin, wo ihr größter 'kalter Fleck' liegt."

Wir verließen die Universität getrennt. Der Plan war klar. Wir mussten ins Schloss. Und wir mussten finden, was auch immer der "Heidelberger Zirkel" vor über zweihundert Jahren dort versteckt oder getan hatte.

Am Abend, als die letzten Touristen das Schlossgelände verließen und die schweren Tore geschlossen wurden, standen wir im Wald am Hang des Königstuhls und blickten auf die gewaltige, angestrahlte Ruine. "Vogel weiß, dass wir hierherkommen werden", sagte Costas leise. "Das ist sein Heimvorteil. Das Schloss wird voller Augen und Ohren sein." "Deshalb gehen wir nicht als wir selbst hinein", sagte ich. Ich nahm ihre Hände. "Wir gehen als Geister. Und diesmal werden wir die leisesten Geister sein, die Heidelberg je gesehen hat."

Ich konzentrierte mich, webte das stille Feld um uns drei. Der Sprung war sanft, fast unmerklich. Wir standen auf dem Schlosshof, im Jahr 1788. Es war eine kalte Winternacht. Schnee bedeckte die Dächer, und Fackeln warfen lange, tanzende Schatten auf die prächtigen Fassaden der Renaissance-Paläste. Das Schloss war keine Ruine, sondern ein lebendiger, atmender Ort voller Lichter und Stimmen.

Wir schwebten zum Ottheinrichsbau, vorbei an Wachen in den Uniformen der Kurpfalz. Wir fanden die Statue Friedrichs V. und blickten auf den Boden davor. Dort, wo heute nur noch glatte Steinplatten lagen, befand sich damals ein kunstvoll verziertes Gitter.

Es war der Eingang zu einem Keller, einem Verlies, einem... Riss im Fundament, und aus diesem Gitter drang ein schwaches, unheimliches Licht. Und die Schreie eines Mannes.